Die große Frage der Woche war ja für viele: Ist Lützerath „nur“ ein Symbol oder geht es wirklich um die 1,5°-Grad-Grenze? Das Thema ist recht komplex und ich habe es nicht wirklich in den journalistischen Texten beantwortet gefunden, da dort oft zwei Seiten der Debatte unvermittelt gegenübergestellt wurden. Daher habe ich selbst einen Text geschrieben und versuche es hier mit einem Ansatz, den manche vielleicht noch aus dem Proseminar an der Uni kennen: Ich empfehle zunächst einen Text mit wissenschaftlichen Zitaten und möchte auf dieser Grundlage dann hier meine Auseinandersetzung führen. Das hat den Vorteil, dass ich die Komplexität des Themas vermitteln kann, ohne etwas zu verkürzen.
Der Ausgangstext
Bei dem etwas schwierigen Text handelt es sich um ein Angebot vom Science Media Center, eine stiftungsfinanzierte Organisation, die den Journalismus mit wissenschaftlichen Fakten unterstützt. Man hat insgesamt vier Wissenschaftler zu dem Thema befragt, damit diese die Widersprüche zwischen den Kohlegegnern und Kohlebefürworten und ihren Studien klären sollen.
Science Media Center: Welche Rolle spielt Lützerath für Klimaschutz und Energiesicherheit?
Im wesentlichen geht es bei den Statements darum, die scheinbar widersprüchlichen Thesen einer Lösung zuzuführen: Während bekannterweise ja die eine Seite sagt, dass Lützerath für eine sichere Energieversorgung abgebaggert werden muss (so argumentiert das BET-Gutachten), meint die andere Seite, dass das 1,5°-Ziel damit verletzt wird (DIW-Studie mit Ergänzung zur Gasknappheit). Man erkennt, wenn man das so formuliert, auch schon ein bisschen die unterschiedlichen Herangehensweisen der zwei Parteien und darin liegt auch schon ein erster Schritt, die eigentliche Aufgabe für die Politik zu formulieren.
Der Service vom Science Media Center ist übrigens eine tolle Sache. Es ist auch erfreulich, dass mindestens drei journalistische Publikationen diese Darstellungen aufgegriffen haben, um das komplexe Bild zu zeichnen. Zwei davon, der MDR (Brauchen wir die Lützerather Kohle?) und der Tagesspiegel (Moratorium für Lützerath gefordert) haben sich einer Auflösung der Komplexität der Zitate dadurch entzogen, dass sie diese einfach nur hintereinander gestellt haben. Ich hätte es in der Zeitnot wohl auch einfach so gemacht. Aber: So entsteht möglicherweise der Eindruck, dass einfach eine Seite nicht Recht hat, aber man nur nicht weiß, welche das ist. Die beste Umsetzung der Zitate findet sich beim Falter, der die Argumente in einen angenehm zu lesenden Fließtext gebracht hat (Zukunft ohne Kohle?).
Das Problem der Veredelungsmenge
Nun zur meiner Analyse der Argumente. Was es bereits in einige journalistische Artikel geschafft hat, ist das Problem, dass der Bedarf für die sogenannte Veredelungsmenge von beiden Seiten unterschiedlich angesetzt wird, wobei beide zugeben, dass man die genauen Mengen und die Alternativen genauer bewerten müsste. Manfred Fischedick schreibt dazu:
Bei der Berechnung der notwendigen Kohlemengen liegen die größten Differenzen zwischen den Studien in der Berücksichtigung des Braunkohlebedarfs für die Kohleveredelung. Dieser wird in den Studien der Landesregierung bis 2030 mit 55 Millionen Tonnen angegeben, wobei schon unterstellt wird, dass die nachgefragten Mengen im Zeitverlauf sinken. Die alternativen Studien greifen diesen Bedarf nicht auf, sondern konzentrieren sich auf die reine Stromerzeugung.
Einer der Autoren der Kohlegegner, Pao-Yu Oei, hat das hier genauer erklärt. Ich glaube, diesen Punkt könnte man daher konsensuell als Argument für ein Moratorium und eine Neubewertung einordnen.
Das Problem mit dem Abraum
Ein weiterer Punkt, der in journalistischen Artikeln oft aufgriffen wurde, ist die Frage nach dem Abraum. Fischedick schreibt:
Auf der einen Seite ist der Abraum, der beim Abbaggern von Lützerath entsteht, notwendig, um den benachbarten Tagebau Garzweiler I zu befüllen. (…) Auf der anderen Seite braucht es hohe Abraummengen, um die Tagebau-Abbruchkanten dauerhaft zu befestigen.
Soweit ich das verstehe, widerspricht der Wissenschaftler hier der DIW-Studie, die den Abraum als ausreichend kalkuliert hat. Ich kann diesen Widerspruch also nicht bewerten oder lösen. Auch diese Frage wäre also ein Punkt, den man während eines Moratoriums neu bewerten könnte. Aber es scheint mir ohnehin eine Frage außerhalb der Kernforderung der Kohlegegner zu sein, die ja primär gegen ein Abbaggern der Kohle und nicht gegen ein Abbaggern von Abraum sind.
Lützerath und die 1,5°-Grad-Frage
Nun kommt der spannendste Teil. Für meine Ausgangsfrage, ob Lützerath nur ein Symbol der Klimabewegung ist oder darunter die 1,5° Grad-Linie verläuft, sagt Manfred Fischedick:
Zu den Zahlen: Die Fördermenge in Garzweiler II ohne Lützerath beträgt 170 Millionen Tonnen. Die zusätzlichen Fördermengen durch Abbaggern von Lützerath betragen 110 Millionen Tonnen.
Und das finde ich jetzt mal eine gute Zahl für die Frage nach der Symbolik: Wenn man das verbrennt, dann sind das 110 Millionen Tonnen CO2, denn man kann das grob 1:1 berechnen. Das wurde leider in keinem Artikel, den ich gefunden habe wirklich in Relation gesetzt, deswegen habe ich selber mal recherchiert: Pro Jahr sind das bis 2030 mehr, als die gesamte Wasserkraft in Deutschland CO2 einspart (etwa 15 Millionen Tonnen pro Jahr). Also das ist für die Klimawende alles andere als symbolisch – wenn man es isoliert betrachtet.
Betrachtet man Lützerath isoliert oder nicht?
Aber mindestens drei der Wissenschaftler warnen davor, Lützerath aus klimapolitischen Aspekten losgelöst vom Emissionshandel zu betrachten. Am deutlichsten formuliert es Wilfried Rickels:
Die CO2-Emissionen, die entstehen, wenn die Kohle unter Lützerath verstromt wird, haben keine Auswirkungen darauf, ob das 1,5-Grad Ziel erreicht wird oder nicht.
Das Statement muss für Klimaforscher’innen ziemlich absurd klingen, weil es ja der Physik widerspricht. Aber als Wirtschaftswissenschaftler betrachtet Rickels das eben durchgehend wirtschafts-systemisch aus der Perspektive des durch den Europäischen Emissionshandel begrenzten Energiesektors. Platt gesagt führt das dazu: Wenn wir die Kohle nicht verfeuern (und also auch keine Zertifikate kaufen), dann bleiben die Zertifikate billig und andere Nationen in Europa werden das ausnutzen und mehr Kohle verfeuern. Wenn man die Stellungnahmen sehr genau liest, findet man aber auch bei allen drei Wissenschaftlern eine wenn-dann-Formulierung für diese Verknüpfung. Denn natürlich sind solche Systeme nicht fix, sondern könnten theoretisch von der Politik angepasst werden, und zwar in beide Richtungen:
Rickels:
Würde es durch eine solche Entwicklung zu einer Aufweichung des Emissionshandels und damit zusätzlichen indirekten Emissionen kommen, wären die Auswirkungen für die Klimapolitik negativ.
Edenhofer:
Solange die Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich hart bleibt und sinkt, und der CO2-Preis wirkt, können wir vorübergehend auch mehr Kohle verfeuern – weil dies zur Einsparung von Emissionen an anderer Stelle führt, also unterm Strich nicht zusätzliche klimaschädliche Abgase in die Atmosphäre gelangen.
Fischedick:
Unterstellt man einen konstanten Emissionsdeckel im Rahmen des Europäischen Emissionshandels – das heißt, eine konstante Zertifikatemenge –, dann ergibt sich EU-weit durch die Maßnahmen bis 2030 kein Netto-Effekt auf die Emissionen. Mehremissionen an der einen Stelle müssen durch Minderemissionen an anderer Stelle ausgeglichen werden.
Was daraus folgt ist, dass die Frage, ob die Kohle unter Lützerrath das 1,5°-Ziel reißt, mit dem Emissionshandel verknüpft ist. Es ist aber auch nachvollziehbar, dass sich Aktivist’innen nicht darauf verlassen wollen, dass politische Instrumente funktionieren und es lieber sehen, dass die Kohle unter der Erde bleibt. Der Konsens für dieses Problem liegt aber auch nicht weit: Man könnte – das lese ich aus den Statements – durchaus auch die Kohle in der Erde lassen und den Zertifikatshandel so anpassen, dass das CO2 nicht woanders verbrannt wird. Ob das in der EU politisch erreicht werden kann, ist natürlich eine andere Frage.
Notwendigkeit für die Energiesicherheit
Als letztes möchte ich noch auf die Frage eingehen, wie die Wissenschaftler die Notwendigkeit für die Stromversorgung einschätzen. Hier gehen die Aussagen auf den ersten Blick auseinander:
Rickels:
Vor diesem Hintergrund [starke Abhängigkeit und zu geringe Diversifikation] erscheint jede Einschränkung des europäischen Energieangebots in dem notwendigen politischen Abwägungsprozess bestenfalls mutig.
Sterner:
Weil der im Gutachten errechnete Braunkohlebedarf zumindest in einem Szenario nicht so deutlich über der Marke liegt, die als Weggabelung für oder gegen den Erhalt von Lützerath identifiziert wurde, kann meines Erachtens nicht der Rückschluss gezogen werden, Lützerath müsse auch zum Erhalt der technischen Versorgungssicherheit abgebaggert werden. Es gibt immer technische Alternativen. Eine Neubewertung beziehungsweise ergänzende Sensitivitätsrechnungen, die diese aktuellen Entwicklungen berücksichtigen wären daher erstrebenswert zur Gesamtbewertung.
Allerdings muss man sich klarmachen, dass sowohl die Energiesicherheit als auch das 1,5°-Ziel als statistische Wahrscheinlichkeiten berechnet werden. Das führt uns zum Fazit.
Fazit
Viele technische Widersprüche zwischen beiden Lagern lassen sich auf Punkte reduzieren, die mit genug Zeit besser bewertet werden können. Fischedick hat das eingangs sehr klar formuliert: „Bei der Bewertung der Notwendigkeit, Lützerath abbaggern zu müssen, muss man zwischen energiewirtschaftlichen und klimapolitischen Aspekten (…) sowie wasserwirtschaftlichen und tagebauplanerischen Aspekten unterscheiden.“
Die Politik muss in einer Lösung diese Aspekte als Kompromiss zusammenbringen. Da geht es also nicht so sehr um wahr oder falsch, sondern viel mehr um erwünschte Wahrscheinlichkeiten. Am Ende lassen sich die Widersprüche zwischen beiden Lagern also reduziert als ein gigantischer Schieberegler zwischen Energiesicherheit und Klimawende verstehen:
Wollen wir lieber hohe Energiesicherheit oder wollen wir weniger Klimaschäden?
Die massive Protestbewegung hat gezeigt, dass sie diesen Schieberegler zum Vorteil zukünftiger Generationen verschieben möchte. Egal ob Lützerrath nun verschwindet oder nicht: Diese Auseinandersetzung wird weitergehen, bis eine zunehmend verzweifelte Klimabewegung wieder das Vertrauen hat, dass ihr Anliegen in der Politik berücksichtigt wird. Das Misstrauen ist berechtigt, denn ohne groß in die Vergangenheit blicken zu müssen, ist ja ganz klar: Mit ausreichend Solar- und Windenergieplanung wäre das Desaster nicht entstanden.
Wenn man die Frage von Lützerath „nur“ als symbolische versteht, dann hat man also vermutlich einen von drei Punkten in der Betrachtung ausgelassen:
1. Entweder man hat dieses Emissionssystem als unveränderlich und absolut marktbestimmend eingeplant, was die Wissenschaftler in diesem Text gerade nicht machen.
2. Oder man versteht absichtlich falsch, was die meisten Aktivisten in Klammern gesetzt natürlich bei ihrem Protest fordern, nämlich dass die Kohle unter Lützerath sowohl in der Erde bleibt als auch nicht woanders abgebaggert und verbrannt wird – dass man also mit anderen Worten wirklich CO2 spart.
3. Oder man hat schlicht die Dimension der Ausstoßes nicht verstanden, der hier zur Diskussion steht.